Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass der sich erwärmende Südliche Ozean das Schmelzen von weiten Teilen des Westantarktischen Eisschildes (WAIS) beschleunigen wird – unabhängig von unseren künftigen Kohlendioxidemissionen. Bei kompletter Schmelze enthält der WAIS genug Eis, um den Meeresspiegel um bis zu 5 Meter ansteigen zu lassen.
Obwohl der Meeresspiegel stetig steigt, ist noch nicht sicher, wie viel und wie schnell das Eis der Westantarktis schmelzen wird. Während Teile des WAIS sehr anfällig zu sein scheinen, bleibt unklar, wann und unter welchen klimatischen Bedingungen die großen Schelfeisflächen, die das Inlandeis stabilisieren, verloren gehen. Um hierauf Antworten zu finden, braucht es Sedimente aus Regionen nahe dem Zentrum der Westantarktis, die während vergangener Zeiträume abgelagert wurden, die wärmer waren als heute. Diese Sedimente enthalten Umweltinformationen, die für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sind, aber bisher nicht zugänglich waren.
Modelle sagen Zusammenbruch des Eisschildes bei über 2°C voraus – ohne geologischen Beweis
Im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts „Sensitivity of the West Antarctic Ice Sheet to Two Degrees of Warming“ (SWAIS 2C) soll ermittelt werden, ob das Ross-Schelfeis und der westantarktische Eisschild abschmelzen könnten, wenn die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde 2 °C über den Werten vorindustrieller Zeit liegt.
„Im Pariser Abkommen haben wir uns verpflichtet, die globalen Durchschnittstemperaturen deutlich unter 2°C im Vergleich zu vorindustriellen Bedingungen zu halten. Modelle sagen uns, dass der Westantarktische Eisschild zusammenbrechen wird, sobald dieser Wert überschritten wird. Bislang lässt sich dies jedoch nicht bestätigen – einfach deshalb, weil wir noch keine fundierten geologischen Beweise haben, die es erlauben würden, das Verhalten des Eisschildes in vergangenen Warmzeiten zu definieren“, sagt Johann P. Klages, Meeresgeologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), deutscher Ko-Koordinator und Mitglied des SWAIS 2C-Wissenschaftsteams.
Forschende bohren bis zu 200 Meter in den Meeresboden
Um mehr über den potenziellen Beitrag der Antarktis zum Anstieg des Meeresspiegels zu erfahren, wird ein Team von Fachleuten für Bohrungen, Ingenieurswesen und Forschung ca. 800 Kilometer per Traverse und Flugzeug zum südöstlichen Rand des Ross-Schelfeises reisen.
„Wir werden ein speziell angefertigtes Heißwasserbohrgerät verwenden, um ein Loch mit einem Durchmesser von 35 Zentimetern durch 590 Meter dickes Eis zu schmelzen, um dann durch 50 Meter Ozeanwasser an die Stelle zu gelangen, wo der Eisschild sich von seinem Bett gelöst hat und neuen Ozeanboden geschaffen hat“, sagt Andreas Läufer, Geologe an der BGR, deutscher Koordinator und Mitglied des SWAIS 2C-Wissenschaftsteams.
„Dort werden wir dann ein spezielles Sedimentkernbohrsystem über dem Loch positionieren, ein Hohlbohrsystem auf den Meeresboden absenken und in die Tiefe bohren, um hoffentlich lange Sedimentaufzeichnungen aus der Vergangenheit der Westantarktis zu erhalten“, sagt Darcy Mandeno vom Antarctic Research Centre in Wellington (Neuseeland), Leiter der Bohrarbeiten für SWAIS 2C.
Bohrlochgeophysik am LIAG unterstützt die Auswertungen
In dem entstandenen Bohrloch werden anschließend geophysikalische Messungen mit Sonden des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik durchgeführt. „Die Messungen tragen essenziell dazu bei, die Eigenschaften der Sedimente unter dem Eis zu charakterisieren“, erklärt Christian Zeeden, Projektpartner von SWAIS 2C am LIAG. „Diese Informationen werden am LIAG ausgewertet und anschließend mit den Bohrkernen abgeglichen, um so ein umfassendes Bild von dem Untergrund und den damaligen Umweltbedingungen zu erhalten.“ Mit der Bohrlochgeophysik kann die Vergangenheit bis in viele Millionen Jahre zurückverfolgt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des LIAG waren bereits im Zuge von ICDP-Forschungsprojekten und der langjährigen Forschungsexpertise innerhalb der Bohrlochgeophysik in der Antarktis aktiv.
Die Feldarbeiten in der Antarktis werden im November 2023 auf dem Kamb-Schelfeis beginnen und bis Januar 2024 andauern. Eine zweite Feldsaison wird im November 2024 am Crary-Eisrand beginnen.
Zur orginalen Pressemitteilung des AWI
Wissenschaftlicher Kontakt am LIAG
Dr. Christian Zeeden
0511 643 3497
Chistian.Zeeden@leibniz-liag.de
Hintergrund SWAIS 2C-Projekt
Mehr als 120 Personen aus rund 35 internationalen Forschungseinrichtungen aus zehn Ländern arbeiten am SWAIS 2C-Projekt mit, darunter etwa 25 Nachwuchsforschende. SWAIS 2C knüpft an andere erfolgreiche internationale Antarktisforschungsprogramme wie ANDRILL an.
Die Arbeiten werden vom Natural Environment Research Council, dem Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, der National Science Foundation (NSF-2035029, 2034719, 2034883, 2034990, 2035035 und 2035138), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (KU 4292/1-1, MU 3670/3-1, KL 3314/4-1), dem Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia, dem Korea Polar Research Institute, dem National Institute of Polar Research, der Antarctic Science Platform (ANTA1801), dem Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik, AuScope und dem Australian and New Zealand IODP Consortium unterstützt. Dieses Projekt ist das erste Internationale Kontinentale Wissenschaftliche Bohrprojekt (ICDP) in der Antarktis. Die Gesamtkosten des Projekts für Betrieb und Logistik belaufen sich auf 5,4 Millionen US-Dollar. Das AWI und die BGR tragen gemeinsam etwa 10% zur Realisierung des Projektes bei. Das AWI ist wissenschaftlich vertreten durch Johann Klages, Juliane Müller, Karsten Gohl und Olaf Eisen und die BGR durch Andreas Läufer und Nikola Koglin.
Logistische Unterstützung wird von Antarctica New Zealand (K862A-2324, K862A-2425) in Zusammenarbeit mit dem United States Antarctic Program bereitgestellt. Die Bohrungen werden durch das ICDP finanziert und unterstützt. Der Projektleiter von SWAIS 2C ist GNS Science und der Bohrdienstleister ist Te Herenga Waka-Victoria University of Wellington.
Allgemeine Hintergrundinformationen
Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde hat sich seit der industriellen Revolution (1850) um 1,2 °C erwärmt, was auf menschliche Aktivitäten wie der Verbrennung von fossilen Brennstoffen (Kohle, Öl und Erdgas) zurückzuführen ist. Gleichzeitig ist der Meeresspiegel weltweit um durchschnittlich 20 cm gestiegen, was in erster Linie auf die Ausdehnung der Ozeane bei der Wärmeaufnahme und das Abschmelzen der Gletscher, Landeiskappen und Eisschilde unseres Planeten zurückzuführen ist.
Bis zum Jahr 2100 ist mit einer weiteren Erwärmung von 1,4 bis 4,4 °C zu rechnen - das Ausmaß des Anstiegs hängt davon ab, welche sozioökonomischen Entscheidungen die Gesellschaft bezüglich ihrer Treibhausgasemissionen trifft. Ein zusätzlicher Anstieg des Meeresspiegels um 30 cm ist unabhängig von unseren Emissionsentscheidungen unvermeidlich, aber der Anstieg kann bis zu 1 oder 2 m betragen, wenn wir einen Weg mit hohen Emissionen einschlagen und mögliche Instabilitäten in den Eisschilden der Antarktis zum Tragen kommen.
Wie empfindlich die großen Schelfeise der Antarktis - und die dahinter liegenden Eisschilde - auf eine Erwärmung zwischen 1,5° und 2°C reagieren, ist ein Schlüsselelement der Forschung, das dazu beitragen wird, besser vorherzusagen, wann und wie stark die polaren Eisschilde schmelzen könnten.
Die Wissenschaft kann in der erdgeschichtlichen Vergangenheit nach Antworten auf diese wichtige Frage suchen. Geologische Rekonstruktionen aus der ganzen Welt zeigen, dass der Meeresspiegel während des letzten Interglazials vor etwa 125.000 Jahren 6-9 m höher lag als heute. Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde war zu dieser Zeit 1-1,5 °C wärmer als in der vorindustriellen Zeit. Diese Daten deuten darauf hin, dass Teile oder der gesamte Westantarktische Eisschild zusammengebrochen sein könnten, was auf eine potenzielle Empfindlichkeit gegenüber Temperaturen hinweist, die wir bereits erreicht haben und im kommenden Jahrzehnt mit Sicherheit erreichen werden. Ziel dieses Projekts ist es, robuste, direkte Beweise für einen möglichen Eisschildzusammenbruch unter verschiedenen Umweltbedingungen zu erhalten.